Vom Sommermärchen zum Integrationswunder?
Türkische Fahnen an Autos und Gehupe bis tief in die Nacht. Selten gab es einen Abend, der deutsche und türkische Fußball-Fans so getrennt hat. Es war der 10. Oktober 1998, und Deutschland hatte das erste EM-Qualifikationsspiel zur Endrunde in Belgien und den Niederlanden mit 1:0 gegen die Türkei verloren. Nie haben deutsche Fans wegen eines gewonnenen Qualifikationsspiels auf der Straße gefeiert – und schwarz-rot-gold war zu diesem Zeitpunkt alles andere als toleriert, geschweige denn rehabilitiert. Eine Forderung der Lehrergewerkschaft GEW zur Abschaffung des Deutschland-Liedes wäre als ernstzunehmender Diskussionsbeitrag und nicht wie bei der WM 2006 als völliger Schwachsinn angesehen worden. Während also auf der türkischen Seite die Freude über den Sieg über das Land, wo man lebt, von dem man sich nie ernstgenommen fühlte, überschäumte, mussten die deutschen Fans einen nationalen Freudentaumel über sich ergehen lassen, der ihnen selber von wehret-den-Anfängen-Mahnern diskursiv verboten wurde. Dieses Unbehagen begründet das nicht unproblematische Verhältnis deutscher und türkischer Fußballfans. In den neunziger Jahren wurden Europapokal-Spiele deutscher Vereinsmannschaften gegen Türkische ebenso wie das Rückspiel in der EM-Qualifikation regelmäßig zu Auswärtsspielen im heimischen Stadion. Das schlimmste für die deutschen Fans war aber, dass der linke Mainstream das bei den Türken als putzige Folklore abtat, was den Deutschen mit erhobenen Zeigefinger strengstens verboten wurde. Ein Missverhältnis das noch 2002 bei der WM in Ostasien auffiel.
Dazwischen liegt fast ein Jahrzehnt, welches den Deutschen in der zweiten Hälfte eine echte Integrationsdebatte bescherte, die zwischen deutscher Leitkultur und Multikulti-Entwürfen oszillierte. Der Kampf um Begriffe in den Talkshows verdeckt allerdings, dass sich einiges, wenn nicht sogar alles verbessert hat.
Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft
Galt die Forderung richtig Deutsch zu lernen früher als Ausdruck chauvinistischer Assimilationsforderung, so ist dies heute parteiübergreifender common sense, da dies nur noch als Voraussetzungen gesellschaftlicher Teilhabe gesehen wird, nicht als Deutschtümelei. Auf der anderen Seite wurde von rot-grün endlich die Einbürgerung erleichtert und die Nation nicht mehr über Abstammung definiert. Mit der klassischen soziologischen Differenz nach Tönnies gesprochen, wurde Deutschland endlich von der (Abstammungs-)Gemeinschaft zur (Integrations-)Gesellschaft. Eine Entwicklung, die sich auch demoskopisch in der Akzeptanz von Deutscher Staatsbürgerschaft als dem Kriterium für deutsch-sein wiederfinden lässt. Und dann sind da ja noch Klose, Poldi, Odonkor usw.
Für die WM 2006 qualifizierte sich die Türkei nicht, und man möchte fast Glauben der Weltgeist persönlich habe da seine Finger drin gehabt. Denn das deutsche Sommermärchen – die Versöhnung der Deutschen mit den Farben des demokratischen Deutschlands – konnte so ungestört von deutsch-türkischem Fahnenwettrüsten an Häuserfassaden geschehen. Im Gegenteil, Teilhabe an der Fußball-Loveparade auf den sonnenüberfluteten Straßen des WM-Sommers gab es für die Kinder der 3. Generation nur unter dem Banner ihres Wohnortes.
Versöhnung von Leitkultur und Multikulti
2008 gibt es keine Wiederholung des Sommermärchens, sondern eine Weiterentwicklung. Wer mit offenen Augen durch die Straßen der Städte geht, der muss angesichts der Flaggen schon ein sehr geschlossenes Weltbild vorweisen, um Angst vor einem nationalistischen Rausch zu empfinden. Es mag ja richtig sein, dass die Fahne – die die Revolutionäre von 1848 getragen haben – zehntausendfach abgasgrauen Mietkasernen bunte Tupfer beschert, aber eben doch nicht nur die Deutsche. Wer mit einigermaßen offenen Augen durch die Straßen 2008 geht, der kann doch eines gar nicht übersehen, den Trend zur Doppelflagge. Auf den Autos, an den Häusern und den Döner-Buden gibt es unheimlich oft binationale Beflaggung, es ist beinahe die Versöhnung von Leitkultur und Multikulti.
„Nur wenn wir uns selbst begeistern, können wir auch andere begeistern“ war der Schlüsselsatz der legendären Rede, mit der Oskar Lafontaine Rudolf Scharping auf dem Mannheimer Parteitag stürzte. Genau dies ist der Beitrag des Sommermärchens zur Integration. Man muss den Zugewanderten und ihren Kindern nicht nur zeigen, dass man sie dabei haben will, man muss auch etwas bieten können. 2001 wurde beispielsweise noch in der Taz bezüglich des Geschichtsunterrichts beklagt: „Viele türkische, griechische oder italienische Familien können sich der deutschen Schuld-Gemeinschaft, der „Tätergesellschaft“, nicht zuordnen.“ Sich gemeinsam für Ausschwitz zu schämen ist eben kein Angebot, dass man nicht ablehnen kann! Der deutsche Selbsthass und die Reduzierung der eigenen geschichtlichen Identität auf zwölf Jahre Nazi-Diktatur war eine große Hemmschwelle für die Integration, die im Gegensatz zum alten Staatsbürgerschaftsrecht, der Integrationsbereitschaft von beiden Seiten und dem Verwechseln von Toleranz mit Ignoranz kaum thematisiert wurde und wird.
„Wir gegen die Türken“ titelte die Bildzeitung mit lässigem Kollektivismus zum EM-Halbfinale. Doch damit textete sie gerade am Entscheidenden vorbei. Es wäre vielleicht übertrieben, aber höchst innovativ gewesen, hätte sie die alte Schlagzeile aus dem Jahr 1989 herausgehohlt: ?Wir gegen uns!? Damals waren BRD und DDR in eine Qualifikationsgruppe gelost worden, aber zu dem Spiel ist es aus bekannten Gründen nie gekommen.
wunderbare einsichten, grandios recherchiert und toll geschrieben!
Hervorragender Artikel, den ich im Geschichtsunterricht am Gymnasium in der Jahrgangsstufe 11 verwendet (und auch anderen Kollegen empfohlen)habe.
Infos um sich selbst zu helfen : Ängste un Panikattacken…
„[…]LA MANNSCHAFT…………………………… Blog zur deutschen Nationalelf[…]“…